Die Orgel
Unsere Orgel wurde am Sonntag, dem 14. Februar 1886 "bei dichtbesetzter Kirche" feierlich eingeweiht, wie Lehrer Maurer in der Schulchronik S.66 berichtet.
Der Erbauer unserer Orgel, Heinrich Voigt (1845-1906), stammte aus Igstadt. Dort hatte sein Vater, der Orgelbauer Christian Friedrich Voigt, gebürtig zu Oberlose im Vogtland, 1832 seine Werkstatt gegründet.
Heinrich Voigt hatte der Gemeinde einen ausführlichen, auf den 19. Juli 1884 datierten Kostenvoranschlag für eine neue Orgel mit 20 klingenden Stimmen, zwei Manualen und Pedal vorgelegt. Auf der Basis dieses Dokumentes gewissenhafter Planung kommt es am 28. August 1884 zum Vertragsabschluß.
Der Kostenvoranschlag enthält einen Nachtrag vom 16. Oktober 1884 des Inhalts, dass die Front des Gehäuses aus Eiche und nur das Seitengehäuse aus Tannenholz gefertigt werden soll, wodurch eine Verteuerung von 640 Mark entsteht, der Endpreis somit insgesamt 6430 Mark beträgt, was im Vertrag bestätigt wird (zum Vergleich: Preis für eine entsprechende Orgel heute 300 000 bis 400 000 Mark). Die Rechnung von Bautechniker Joseph Morr für die Bauzeichnungen trägt das Datum vom 31. Oktober 1884.
Am 30. November 1884 erhält auch der Vertrag einen Nachtrag, der die Bedingungen der am 7. November erteilten Baugenehmigung des königlich-preußischen Consistoriums in Wiesbaden aufnimmt. Der wesentlichste Punkt hierbei ist: „Bei der Detaillierung des Gehäuses sind die Profile des Prospektes der ev. Kirchenorgel zu Höchst aufs genaueste einzuhalten und darzustellen.
Diese Orgel war 1883 für die gerade fertig gestellte Stadtkirche in Frankfurt-Höchst von der Firma Voigt erbaut worden (1975 wurde sie nach mehreren Umbauten durch einen Neubau ersetzt).
Am 23. November 1885 schließt der Kirchenvorstand mit Lackierer Wilhelm Schmidt aus Igstadt den Vertrag betreffs der anfallenden Vergoldungsarbeiten an der neuen Orgel. Für diese Arbeiten liefert A. Lantz den Entwurf in Form einer Wasserfarbenzeichnung (für 12 Mark, Rechnungsdatum 17.2. 1886).
Als musikalischer Sachverständiger prüft der "Pianist und Organist der protest. Hauptkirche zu Wiesbaden" (heutige Marktkirche), Adolf Wald, das spielfertige Instrument am 29. Januar 1886 drei Stunden lang. Am 4. Februar legt er ein in Ausführlichkeit und Gewissenhaftigkeit dem Voigtschen Kostenvoranschlag in nichts nachstehendes handschriftliches Gutachten von acht Seiten vor. Unter anderem heißt es: "Es gereicht mir zum besonderen Vergnügen, Herrn H. Voigt, welcher mir schon seit einer Reihe von Jahren als ein äußerst strebsamer, reeller und solider Orgelbauer bekannt ist, das ehrende Zeugniß ausstellen zu können, daß die neue Orgel in der Kirche zu Nordenstadt ihm in jeder Beziehung gelungen ist und einen außerordentlichen Fortschritt seiner Leistungsfähigkeit bekundet."
Für Prüfung und Gutachten, Reisebemühungen bei bodenlosen, schlammigen Wegen und Rückkehr bei völlig dunkler Nacht, Auslagen für Reise und Porto sowie Verluste durch Ausfall seiner Musikstunden berechnet und quittiert Adolf Wald am 20. Februar 1886 90 Mark
Auch der zuständige königl. Baubeamte, Baurat Moritz, vermerkt am 17. Februar 1886 seine Zustimmung zur Abnahme auf dem Orgelbauvertrag.
Lange hat Heinrich Voigt nicht auf sein Geld warten müssen: er bescheinigt am 19. März 1886, die vertraglich vereinbarten 6430 Mark bar erhalten zu haben, wobei bereits vorher 5500 Mark als Abschlagszahlungen geleistet worden waren.
In den 100 Jahren ihres Bestehens erlebte die Voigt-Orgel nur geringe Veränderungen:
- 1917 mussten "die zwei größten unserer Kirchenglocken und die Prospektpfeifen der hiesigen Kirchenorgel auf dem Altare des Vaterlandes geopfert werden," berichtet Lehrer Wittgen in der Schulchronik S. 213. Das Äußere der "prächtigen Orgel" betreffend klagte er: "Wo ist jetzt ihr schönes Gesicht? Wie vom Feinde zerstört sieht sie aus." (Bis 1932 versahen übrigens alle Hauptlehrer obligatorisch den Organistendienst.)
- Im Jahre 1927 schaffte man ein Motorgebläse an, sodass das Balgtreten - bisher von Konfirmanden besorgt - überflüssig wurde.
- 1933 begannen die Verhandlungen mit August Hardt zwecks Reparatur der schadhaften Trompete 8'. Am 30. Juli 1934 teilt Hardt mit, das genannte Register sei leider nicht reparabel wie vorgesehen. Gleichzeitig unterbreitet er ein Angebot für eine neue Trompete, die noch im selben Jahr eingebaut wird (Kosten dafür nach Abzug von 65 RM Altmaterialvergütung für alte Trompete: 85 RM, Rechnung vom 17. Januar 1935).
- In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die nach der Jahrhundertwende im Elsass ausgelöste "Orgelbewegung" ihre volle Entfaltung erreicht: absolute Norm war inzwischen die "Barockorgel" und was man dafür hielt. Welche Ironie! Nun hätte fast das gleiche Schicksal die romantische Orgel von 1886 getroffen wie einst ihre barocke Vorgängerin: man wollte sie los werden oder doch zumindest "verbessern" durch "Aufhellen" und "Barockisieren" des ganz und gar nicht barocken Klangbildes.
- Sie blieb verschont, bis die Zeit reif war für ein neu erwachtes Verständnis der Romantik. Nach dreijährigen Verhandlungen führte die Fa. Förster & Nicolaus (Lich) im Jahre 1976 eine gründliche, stilgerechte Restaurierung für 73200 DM durch. Dabei wurden u. a. auch die behelfsmäßigen Zinkprospektpfeifen der 20er Jahre durch neue aus 75%iger Zinnlegierung ersetzt.
- So ist dieses Instrument fast so auf uns gekommen wie Heinrich Voigt es seinerzeit geschaffen hat als lebendiges Zeugnis der in alter Handwerkstradition stehenden Orgelbaukunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als ein in seiner Begrenztheit vollkommenes Kunstwerk dieser Epoche.
Textausschnitte aus: 250 Jahre Evangelische Kirche Nordenstadt, 28. August 1988, S. 23-27 in Auszügen
Wir danken Herrn Rainer Noll, Nordenstadt für die Bereitstellung seiner Recherchen.
erbacher-hof.de